Gestern saß ich in einer Kneipe. Als am Nebentisch ein Mann aufstand, um zur Toilette zu gehen, sah ich, dass er ein Holzbein hatte, komplett von der Hüfte bis zum Fuß. Ich wurde wach und schaute mich um. Ich entdeckte unweit von mir eine Frau, mit dem Habitus einer englischen Lady, die sich von dem Kellner bedienen lies, als sei er ihr Butler – erstaunlich. Gleich daneben zwei Gauner, die sich seit Jahrhunderten kannten und dabei waren, ihren nächsten Coup zu planen. Dann ein Paar, welches bestimmt schon seit 500 Jahren zusammen ist und nicht von sich lassen konnte und zwei Tische weiter einen Mann, der machte mich traurig. Er trug immer noch die leere Verzweiflung und die unsagbare Kälte von Stalingrad oder Rostow am Don in sich und konnte nicht entspannen oder spüren.
Phantasierte ich oder trugen die Menschen gestern ihre Inkarnationen besonders deutlich auf der Stirn? Es geschieht mir immer wieder, ich schaue meinen Nachbarn an, schon zeigt sich in seinem Ohrring eine andere Gestalt und lässt ihn zu dem Seemann werden, der er vielleicht vor langer Zeit mal war. Die Frau aus dem Haus nebenan, fährt in ihrem Cabriolet an mir vorbei. An der Art wie sie ihr Kopftuch trägt, erkenne ich sofort die wohlhabende Dame aus der 20er Jahren, die bereits ein Auto besitzt und es auch fahren kann.
Überall sehe ich Menschen, wie in Inkarnationen gekleidet, nein, ich spinne nicht, ich bin nicht verrückt, ich habe nur einen anderen Blick eingeschaltet. Er zeigt mir Brüche in der Figur der anderen, die auf vergangene Leben hinweisen. Er zeigt mir, wo etwas nicht passt – oder nicht zu denen sondern zu jemand anderem…
Habe ich den Blick einmal eingeschaltet, ist es frappierend, wie massenhaft die Hinweise sind.
Das gepunktet T-Shirt, die schräge Frisur, die Sonnenbrille im Haar, die komplizierte Art sich auszudrücken, der traurige Blick, die Unfähigkeit freundlich zu sein… Überall lauern Inkarnationen und erzählen eine Geschichte, die lange vorbei ist. Ich meine das sollte man ändern.
Es wird Zeit, dass mehr Leute davon erfahren!